Landzunge

Moritz Hegers Theaterstück für zwei Schauspieler Landzunge wird wie auch seine anderen Stücke vom Kaiser Verlag vertreten. Es ist frei zur Uraufführung. 


Ort:
Kurische Nehrung bei Nida, Litauen
Personen:
Mann und Frau, beide um die 50, lange verheiratet, kinderlos
 
           
2. Szene
(Auf einer Radtour.)
F          Jetzt ras nicht.
M        Ich ras nicht.
F          Aber ich muss rasen, wenn ich hinterherkommen will.
M        Fahr ruhig dein Tempo. Ich warte vorne.
F          Ich will nicht überall schon erwartet werden. Wie der Hase bei Hase und Igel. Dann fahr ich lieber allein. 
M        Du erwartest, dass ich mich an dich anpasse. Aber du passt dich nicht an mich an.
F          Ein Porsche muss sich auch an den Fiat anpassen. Umgekehrt gehts nicht.
M        Schmeichelhafter Vergleich.
(Sie fahren.)
M        Jetzt trödelst du aber.
F          Das ist ein ganz normales Tempo.
M        Da kommt man gar nicht vorwärts. Ich will mich spüren beim Fahren. Spüren, wie mein Körper arbeitet. Wenn der Körper sich anstrengt, hat der Geist frei. 
F          Ich will auch was sehen. Nicht nur durchzischen durch den Wald.
M        Dann kann man auch wandern.
F          Wenn unsere Bedürfnisse so verschieden sind, sollten wir vielleicht wirklich getrennter Wege gehen.
M        Und wenn mein Bedürfnis ist, mit dir zusammen eine Radtour zu machen, Heike? Der, der mehr Gemeinsamkeit will, wird in einer Beziehung immer erpresst.
F          Na, du willst auch nur Gemeinsamkeit, wenn du Gemeinsamkeit willst. 
(Sie fahren.)
M        Das ist schon komisch, dass das Mädchen vom Strand ausgerechnet in unserem Hotel arbeitet, oder?
F          Melanie? Was soll daran komisch sein? Eine Hotelangestellte hat auch mal frei. Warum soll sie dann nicht an den Strand gehen?
M        Nein, ich meine nur, dass du gestern gemeint hast, du kennst sie, und heute beim Frühstück kennen wir dieselbe Person auch schon. Das ist komisch, wenn dir in der Fremde jemand gar nicht fremd ist. Also ich finde das komisch. 
F          In der Fremde. Klingt irgendwie antik. Odyssee oder so. Heute gibt es doch gar keine richtige Fremde mehr. Jedenfalls nicht hier. Alles Europa, alles erschlossen. 
M        Du, früher war das hier noch weniger fremd. Die haben alle deutsch gesprochen. Das war Deutschland. Jetzt sind wir östlich von Russland. Wenn man Kaliningrad mitrechnet. 
F          Fahren wir da hin? In die Exklave?
M        Gerade fahren wir in die Gegenrichtung.
F          Morgen.
M        Für Kaliningrad braucht man ein Visum. Das hätten wir früher beantragen müssen.
F          Da ist eine Grenze noch eine Grenze.
M        Es lohnt auch nicht. Steht im Reiseführer. Außer man hat spezielle Interessen. Dort ist alles noch ziemlich runtergekommen. 
F          Dort ist es wirklich fremd. 
M        Vermutlich.  
F          Weißt du, was ich komisch finde? Sie hatte keinen Sonnenbrand. Nicht die leiseste Rötung. Ich war gut vorgebräunt, und sogar ich hab was abbekommen. Sie ist viel blasser. Sie ist blass.  
M        Sie lag die ganze Zeit auf dem Bauch. Das Gesicht vergraben.
F          Ich meine nicht das Gesicht. Melanie hatte heute ein Trägertop an, wie du wahrscheinlich wahrgenommen hast. 
M        Jetzt hör auf, sie Melanie zu nennen. Das ist nicht Melanie! Und das ist auch nicht lustig.
F          Man konnte ein gutes Stück Rücken sehen plus Schultern. Sehr schöne Schultern. Sehr schöne Schlüsselbeine und sehr schöne Schultern. Aber nicht die leiseste Rötung. Und dabei ist sie wirklich beinahe weiß. Aber weißt du, was ich fast noch komischer finde? Ihr perfektes Deutsch.
M        Vielleicht stammt sie ja aus alter Zeit. Hat hier noch mit Kant parliert oder mit Thomas Mann. Im Ernst, die wird halt mal in Deutschland gewesen sein. Austausch oder so. Ist doch heute kein Ding.
F          Nein, das ist heute kein Ding, irgendwo im Ausland zu sein.
M        Dann frag sie doch!
F          Was soll ich fragen?
M        Was du willst.

(Sie fahren.)
M        Du flirtest ganz offen mit ihm. Mit George. Schamlos offen. Mir drehst du aus ein paar Blicken einen Strick, du bemühst dich nicht einmal, das irgendwie zu verbergen. An den Lippen gehangen hast du ihm, aufgelacht bei jedem Wort, und dann hast du ihm die Öffnung deiner Lippen entgegengereckt. Während ich daneben stand. Peinlich war das! Ihm auch. Da bin ich sicher. Wenn der nicht so höflich wäre.
F          Der. 
(Sie fahren.)
M        Daheim ist es doch das Gleiche. Zu meinem Theater kommst du nie. Da sagst du immer, das ist deine Welt. Da bin ich nur ein Fremdkörper. Lass dich feiern, Heiner. Immer mit diesem Unterton sagst du das. Und wenn ich sage, bitte komm, mach dir ein Bild, es ist alles absolut harmlos, lächelst du nur. Du kennst Melanie doch nur von Bildern. Aber ich muss mit zu euren Vernissagen. Besäufnisse, sagen wir es doch, wie es ist. Reine Besäufnisse sind das! Reine Besäufnisse mit Rainer. Bussi, Bussi. Jeder im Arm von jedem. Die reinste Kunstkrake!
F          Fall nicht vom Rad.
M        Was lachst du?
F          Ihr reimt euch. Rainer – Heiner. Ist mir noch nie aufgefallen.
(Sie hat plötzlich gestoppt.)
M        Was ist denn?           
F          Pause.
M        Hier?
F          Hier ist es schön.
M        Hier ist es überall schön. Das Kaff muss gleich kommen. Hier ist ja nichts.
F          Wald.
M        Wald.
F          Du kannst ja vorfahren, wenn du willst.
M        Wie lange willst du denn?
F          Schauen wir mal. Hier gibt es Elche und Bären.
M        Ach, du liest doch im Reiseführer?
F          George hat es mir erzählt.
M        George.
F          Du stehst nicht immer daneben, wenn ich mit ihm rede. 
M        Tiere, die sie einem anpreisen, sieht man nie. Das ist doch nur ein Lockmittel für Touristen. 
F          Wir sind Touristen.
M        In Wirklichkeit sind die wahrscheinlich längst ausgestorben hier. Da, ein Elch! Haha. 
F          Wir sind zu laut. Zu verschwitzt. 
M        Jetzt bin ichs wieder.
F          Man muss verschwinden, dass das Wilde kommt. 
M        Ach. Wo willst du denn hin? Da kommt doch gleich der Strand. Das Meer. Das könnten wir rauschen hören. Wenn es ein richtiges Meer wäre. Und dort kommt gleich das Haff. Das ist alles ganz schmal hier. Hier gibt es keine Wildnis, wo du einfach reinlaufen kannst, Heike. Hast du vergessen, dass wir auf einer Landzunge sind? Ja, und die Räder? Du hast den Schlüssel, Heike!  
(Sie ist im Wald verschwunden. Er folgt ihr.)
SCHNITT  
M        Ganz schön steil.
F          Gerade warst du noch der Sportler.
M        Ich meine ja nur, dass es überraschend hochgeht für so eine schmale Halbinsel. Hast du deine Flasche auch am Fahrrad gelassen? Jetzt könnte ich einen Schluck brauchen. Jetzt haben wir extra zwei Flaschen dabei, und jetzt ist wieder keine greifbar. Das ist nämlich kein Hügel, kein normaler Hügel. Das ist eine Düne. Eine dünne Schicht Erde, aber drunter alles Sand. Die hält die fest. Die Erde die Düne. Die Vegetation. Wenn sie nackt sind, richtige Dünen, wandern die unaufhaltsam. Hier waren überall Dörfer. Sind noch da, unter uns. Die haben die eins nach dem anderen verschlungen. Was für ein Hunger. Was für ein langsamer, grausamer Hunger, was? Von oben müssten wir jedenfalls einen guten Blick haben.
F          Ich hab einen guten Blick.
M        Du siehst doch nur Wald.
F          Ein schöner Wald. Ein Märchenwald.  
M        Ja, in Litauen drehen sie jetzt die deutschen Märchenfilme. Weil es billiger ist.
F          Da möchte man sein Lager haben. Wie Schneeweißchen und Rosenrot.   
M        Das versteh ich nicht. Wir müssten von hier doch das Meer sehen. Wir sind doch weiß Gott hoch genug. Hier das Meer und da das Haff. Oder hab ich einen Knick in der Optik? Da vorne muss es aber wirklich kommen. 
(Er verschwindet um eine Ecke.)
F          Brumm. Brumm.
(Er kommt zurück.)
M        Schsch.
F          Was ist? Ein echter? 
M        Da sind. George und Melanie. Beim.
(Sie schaut ihn an. Sie lächelt. Sie geht gucken.)